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Marina Thudichum und der Musenkuss

„Gibt es auch Dichterinnen?“, fragte die kleine Marina ihren großen Bruder, denn sie wollte so gerne eine werden. Der antwortete, zum Dichten müsse man von der Muse geküsst werden, einer Zauberin, die man nicht sehen und hören könne. Man spüre nur ihren Kuss. Lange wartete das Mädchen auf diesen Kuss und tröstete sich schließlich: Sicherlich habe die Muse sie im Schlaf geküsst, so dass sie den Kuss nicht habe spüren können.

Die Villa Thudichum

Villa Thudichum

Geboren wurde die spätere Kinderbuchautorin Marina Thudichum 1906 in der elterlichen Villa in Tutzing. Gustav Thudichum, Komponist und Schriftsteller, hatte das stattliche Gebäude mit den beiden neugotischen Türmen in den 1860er-Jahren durch den Tutzinger Architekten Engelbert Schnell errichten lassen, unmittelbar neben dessen eigener Villa. Die beiden Villen sind die beiden letzten noch erhaltenen einer ganzen Reihe herrschaftlicher Landhäuser, die damals den Weg vom Bahnhof hinunter zum Dorf und zu den Seevillen säumten. Die Bahnhofstraße war eine sehr gute Adresse, wie man auch am Hotel Simson sehen konnte – jenem vornehmen Hotel unweit des Bahnhofs, in dessen Gebäude viel später die Firma Böhringer Mannheim dem Bombenhagel über dem Industrieraum Mannheim-Ludwigshafen entfloh und damit der Hotelnutzung und auch dem noblen Charakter der Bahnhofstraße ein für alle Male ein Ende bereitete. Aber das ist eine andere Geschichte.

Tutzinger Kinderparadies

Sie lag noch in fernster Zukunft, als das Mädchen auf den Musenkuss wartete, an der Tutzinger Promenade schwimmen lernte, mit den Eltern auf der Ilkahöhe spazieren ging und im Villengarten heimatloses Kind, verfolgte Sklavin, Wildnis, Köhlerleben oder Hexenhaus spielte. Allein, denn die Brüder spielten kaum mit der kleinen Schwester, die Spielwelten und Spielkameraden erfand und sich selbst Geschichten erzählte. Ihre Phantasie sprudelte nur so – eine Begabung, die ihr zugute kam, als sie später in Feldafing als Erzieherin arbeitete. Doch es zog die junge Frau an den Schreibtisch. Erfolgreich. 1935 erschien ihr erstes Buch, “Eine Mädelgeschichte aus Oberbayern”. Als Kinderbuchautorin arbeitete sie in München im Verlag Paul Hugendubel und war von 1961 an für das Kinder- und Jugendbuchprogramm des Ludwig Auer Verlags in Donauwörth zuständig. Auch Lyrik verfasste sie, sowie Theaterstücke und Lieder. Bis heute ist sie in Grundschulbüchern vertreten.

Die Villa Thudichum war schon seit über 60 Jahren nicht mehr im Familienbesitz, als Marina Thudichum 1990 im Tutzinger Krankenhaus der Missionsbendiktinerinnen starb. Nur einen Flügelschlag entfernt von dem Haus ihrer Geburt und der Heimat ihrer ersten Geschichten. In diesem Jahr wäre Marina Thudichum 100 Jahre alt geworden.